Ein Leben ohne Lesen und Schreiben | ASB-Mehrgenerationenhaus rückte mit Aktionstag ein Tabu in den Fokus
Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Das ist mehr als jeder achte Erwachsene. In Stadt und Landkreis Kassel betrifft das rund 41.000 Menschen. Fakten wie diese waren kürzlich in Lohfelden auf den Bürgersteigen zu lesen. Mit dieser Aktion wollte das Team des Mehrgenerationenhauses (MGH) ein Tabu in die Öffentlichkeit rücken - um für Betroffene zu sensibilisieren, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, und um zu zeigen, dass sich niemand dafür schämen muss.
Motto: „Über Fakten stolpern“
Jan Weifenbach, der im MGH den Schwerpunkt Förderung der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen betreut, sagt: Der Aktionstag „Über Fakten stolpern“ sollte dazu dienen, das Thema in die Gemeinde hineinzutragen. Ziel sei es gewesen, über das Problem zu informieren und aufzuzeigen, wo Hilfe zu finden ist – etwa beim bundesweiten kostenlosen Alfa-Telefon, wo sich Betroffene anonym informieren können, oder über Lernportale im Internet oder via App.
Angebot: Hilfe bei Anträgen und Behördensachen
Ebenso macht das MGH Beratungsangebote. Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, erhalten beispielsweise im Rahmen des neuen Beratungsangebots „Hilfe bei Anträgen und Behördensachen“ eine Hilfestellung. Jeden letzten Mittwoch im Monat von 16.30 bis 18 Uhr ist eine Mitarbeiterin vor Ort, die sich kümmert. Mit ihr kann auch ein vertrauliches Gespräch gesucht werden.
Botschaft: „Schreib dich nicht ab!“
Mit Kreide geschrieben waren auf Lohfeldens Gehwegen auch die Folgen, wenn es mit dem Lesen und Schreiben nicht klappt – etwa: „60 Prozent der Betroffenen arbeiten in Helferjobs für Ungelernte.“ Dem gegenüber standen Botschaften, was Lese- und Schreibkompetenz ermöglicht: „Es gibt Sicherheit“ oder „Es macht unabhängig.“ Die Lohfeldener waren auch eingeladen, ihre Gedanken auf dem Asphalt zu hinterlassen. Und hinter allem stand für die Betroffenen die Nachricht: „Schreib dich nicht ab!“
Hinschauen: Wo ist Hilfe nötig
Es war bereits der zweite Aktionstag, den das MGH zum Thema organisiert hat. Bereits im Sommer hatte das Team unter der Leitung von Christina Neuer Ehrenamtliche zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Ziel für dieses Jahr sei es, Multiplikatoren ins Boot zu holen. Der MGH-Leiterin ist das ein Anliegen, weil es nicht einfach ist, die Betroffenen zu erreichen: „Die meisten verheimlichen ihr Problem.“ Viele schleppten ihre Lese- und Schreibschwäche über Jahre als Geheimnis mit sich rum. Im MGH versuche man deshalb genau hinzuschauen, wo Hilfe nötig ist.
Betroffen: Mehr Männer als Frauen
Defizite beim Lesen oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen zu schreiben und zu lesen nennt man Analphabetismus. Betroffen sind mehr Männer als Frauen, mehr Ältere als Jüngere, mehr Bildungsferne als Bildungsnahe. Es gibt verschiedene Formen von Analphabetismus. Zum einen die primäre Form, bei der Betroffene überhaupt nicht schreiben und lesen können, weil sie es nie gelernt haben. Zum anderen die sekundäre Form: Betroffene haben als zwar Kinder schreiben und lesen gelernt, es aber später vergessen oder verlernt.
Eine weitere Form ist der funktionaler Analphabetismus: Betroffene haben lesen und schreiben gelernt. Manche können Wörter und einzelne kurze Sätze schreiben oder lesen, längere Texte bereiten jedoch Schwierigkeiten. Die Kenntnisse reichen meist nicht über das Grundschulwissen hinaus. Die Ursache liegt nicht in mangelnder Intelligenz. Mögliche Gründe sind etwa persönliche oder familiäre Probleme.